"Waldmärchen" 2001
Es lebte eine alte Frau in einem Wald. Sie mußte dort wohl schon lange leben - wußte sie doch selbst nicht mehr warum und wie lange sie schon hier war. Sie hatte die Schönheit eines Mädchens, obwohl ihr Äußeres für einen fremden Betrachter den Bäumen glich - ihre Haare waren wie das Moos, das die Erde bedeckte und sie sprach mit den Tieren des Waldes und mit den Pflanzen in der ihnen eigenen Sprache. Wenn sie sich schlafen legte, so legte sie sich
unter einen Baum im Wald, der sie zur Nacht mit seinen Blättern bedeckte
und morgens weckten sie die Vögel, die sich an ihre Wangen schmiegten
und ihr zauberhafte Melodien sangen. Sie trank mit dem Wild gemeinsam von
den Quellen, die sich aus dem Boden ergossen und die Bienen flößten
ihr den süßen Honig ein, wenn sie saß um sich auszuruhen.
Sie konnte den Wald als Ganzes fühlen und wenn ein Tier erkrankte,
so war sie ihm mit heilenden Kräutern und Worten der Linderung zu
Hilfe - für jedes Leid kannte sie eine Frucht oder ein wildes Kraut
und wenn sie so innerlich das Regen um sich spürte, so war es als
strich ein sanfter Wind durch den Wald.
Doch es gab einen Baum in dem Wald, der war schwarz
wie der Tod selbst.
Nur weil er schon so lange stand wußte die
Frau, daß noch etwas wie Leben in ihm sein mußte und sie wußte
auch : Er war schon länger hier als sie selbst - viel länger.
Oft hatte sie bei ihm gestanden, schweigend und eine innere Traurigkeit
fühlend, nicht wissend warum, ihn betrachtet als wäre er ein
Traum vor ihrer Geburt. Er war ihr fremd und angsteinflößend
und zugleich strahlte seine Ruhe ein Vertrauen aus, als fühlte er
sie sich in seiner endlosen Dunkelheit verlieren, nur sie konnte ihn nicht
fühlen, wie sie den Rest des Waldes erfüllte...
"Warum kann ich Dich nicht fühlen, wie ich
alles andere fühle?"
und sie kam am nächsten Tag wieder und fragte
erneut :
Am dritten Tag kam sie wieder und fragte erneut
:
Sieben Jahre kam sie nun nicht dazu, den Baum
zu besuchen und sie hatte ihn
Auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald
entdeckte sie plötzlich eine Lichtung, die sie noch nie zuvor gesehen
hatte - mit dem prächtigsten Baum in der Mitte. Und sie wunderte sich,
warum sie ihn nicht kannte, diesen schönen Baum, kannte sie
doch jeden Grashalm in ihrem Wald. In seinen Ästen saßen so
viele Vögel, daß sie nicht zu zählen waren und sie bauten
ihre Nester eins neben dem anderen, als wäre sieben Jahre lang Frühling
gewesen. Sein Stamm war stark und die Tiere schmiegten sich an ihn und
die Frau fühlte die Liebe, die alles erfüllte, das den Baum umgab
und sie ging auf ihn zu und berührte seinen Stamm mit ihrer Hand
ein Tautropfen fiel von einem der Blätter
ab und rann über ihre Finger ...
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